Von Dr. des. Jeanne Bindernagel
Die Arbeiten von Internil lernte ich zu einer Zeit kennen, in der ich mit Theater stark zu fremdeln hatte. Als Grundlage der ökonomischen und intellektuellen Existenz einer Theaterwissenschaftlerin, die ich unter anderem bin, hatten Theater und Theaterdiskurs vormals eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt – und zwar gerade unter der Bedingung, dass auf der Bühne sowohl Parameter gesellschaftlicher Normalität als auch meine eigenen Überzeugungen fraglich (gemacht) wurden. Gewohnheitsmäßig war es für mich ein Genuss, mich im Theater gesellschaftlich und ästhetisch verunsichern zu lassen. Mit Freude konnte ich dort jedes Denkspiel sportlich nehmen, durch das ich zur Infragestellung meiner Ethik und Weltsicht aufgefordert wurde. Ich hatte mich über 15 Jahre intensiv darin trainiert. Doch irgendwann im Jahr 2015 war erst einmal Schluss mit dem Spielen. Die uneingestandene Dialektik der Verunsicherung war aufgekündigt bzw. mir unerwartet drastisch ins Bewusstsein getreten: Der Genuss an der Verunsicherung, die Hin- und Aufgabe der eigenen Deutungshoheit mochten auch deshalb so geliebte Übung für mich als Theaterzuschauerin gewesen sein, weil ich diese außerhalb des eng definierten Raums Theater kaum auszuführen hatte. Ich fühlte mich sehr lange sehr sicher in dem Wissen, dass meine Weltsicht beim Verlassen des Theaterhauses wieder Gültigkeit haben und ich mich gesellschaftlich befähigt fühlen würde. Da tat die kleine philosophische Unterbrechung der eigenen Hegemonie sogar mal ganz gut. Theater muss sein, sagte man bis dahin auch sehr gerne.
Zugegeben, einverstanden war mit der Wirklichkeit auch vor 2015 wohl kaum ein vernunftbegabter und kritischer Mensch. Aber zumindest in der Stoßrichtung der Kritik vermutete man genügend gemeinsamen Boden mit den Anderen. Doch seit meinem Umzug 2015 nach Dresden marschierte über diesen Boden jeden Montag pünktlich um 18 Uhr eine beachtliche Zahl ‚anderer‘ Anderer, mit deren Kritik und Forderungen sich nicht nur kein Gemeinsames fand, sondern die strategische Stärke und unerwartete Aggression darin zeigten, ihre Sicht auf die Straße, in die Institutionen und in kollegiale Beziehungen hinein zu tragen. Dass es Faschist*innen gab, war nicht die Überraschung. Aber ihre Menge, ihre Persistenz und die Treffsicherheit ihrer langfristigen Verletzungen gesellschaftlicher Solidarität waren es doch, wider besseren Wissens. Diese Erfahrung hatte eine Sogwirkung. Anders als im Theater glaubte man sich in dieser Zeit in einer erschreckend realen Erfahrung angekommen. Alle Gespräche hatten ein neues Zentrum, jede Theoriearbeit, jeder ästhetische Genuss eine neue Zielvereinbarung.
Und genau der ästhetische Genuss entwickelte in dieser Situation ein Fremdheitsproblem. Wer hatte denn beim besten Willen überhaupt noch Zeit, sich ins Theater zu setzen? Nicht-weiße Freunde wollten nach sehr unangenehmen Begegnungen bei Dunkelheit nicht mehr allein durch die Stadt gehen und wurden allabendlich an der Tram abgeholt; Infoveranstaltungen wurden organisiert, deren Inhalte und Plädoyers allerdings nur wenige Wochen später von der Wirklichkeit bereits eingeholt wurden, weil es neue Übergriffe gegeben hatte; und alle Bekannten ‚von außerhalb‘ wollten am Telefon überhaupt erstmal verstehen, was denn da ‚bei euch‘ los sei und wann es bei ihnen auch soweit sein würde. Das Theater offenbarte mir in dieser Zeit wenig Werkzeuge, um mit diesen Gegebenheiten umzugehen. Es stand eher im Weg rum, wenn es nicht gerade Treffs für Geflüchtete organisierte.
Diese Erfahrung der Hysterisierung deutscher Gegenwart ist tatsächlich real. Doch einen wichtigen analytischen Zugriff unterschlägt sie: Ihre eigene Theatralität. Diese in die Handlungsoptionen miteinzubeziehen, ermöglichen das Theater bzw. die Performances von Internil. Etwa drei Jahre nach den geschilderten Begebenheiten diskutierte eine Lecture Performance von Arne Vogelgesang in Dresden die Situation vor Ort in theatralen Begrifflichkeiten. Eine Denkmalenthüllung (Oder war es ein Besuch der Kanzlerin? Hier jagt ja ein eskalierendes Großereignis das nächste und eigentlich sind sie alle gleich) war Gegenstand der Analyse. Da trafen Stadtpolitik, organisierter rechter Protestauflauf und bürgerschaftliches Engagement für die Werte der Zivilgesellschaft in einer Art Brechtscher Lehrstücksituation zusammen, inklusive Tableauästhetik, chorischer Untersuchung der öffentlichen Moral und unterschiedlichen gewaltvollen Urteilssprüchen, die im Internet in der Folge der Veranstaltung auf dem Marktplatz ihre Exekution fanden. Arne baute daraus Schaubilder, aus denen frappierend klar hervorging, welche Interessengruppen an derartigen Szenen wie verdienten und sie deshalb mit welchen Mitteln inszenierten. Unmittelbare Erfahrung lässt sich so, begrifflich am Theater orientiert und darin die Gegenwart historisierend, als etwas denken, zu dem man sich auch und gerade wegen der eigenen Involviertheit mit Abstand, nach-denkend verhalten kann. Handeln will man in der Folge nicht weniger als vorher.
Aber in den Performances von Internil verkompliziert sich die Lage erneut und hier kommt die Lust am Spiel für die Zuschauerin zurück. Denn Analyse und Verführung überführen sich hier gegenseitig ineinander. Der aufklärerische Impetus, mit dem sich Wirklichkeit in theatralen Kategorien analysieren lässt, bürgt bei Internil nicht für die Wahrheit. Mag er methodisch auf mich mehr als einmal befreiend gewirkt haben, die Rede von der Welt als Theater ist nicht linken Diskursanalytiker*innen wie mir vorbehalten. Vielmehr ist sie gängiges Narrativ etwa von Verschwöhrungstheorien und deren vielgestaltigen Spielarten. Internil kennt diese nicht nur (man hat bei der Fülle des in ihren Performances bearbeiteten Materials manchmal den Eindruck: Sie müssen jede einzelne davon auf Youtube gefunden und durchgespielt haben!), sondern arrangiert sie auch zu neuen Konstellationen. Spätestens hier ist dann wieder Schluss mit Distanznahme. Zu gefährlich nahe kommen sich in diesem Abgleich die Theatermetaphern marxistischer Theorie, bürgerlichen Kulturdünkels und rechter Allmachtsphantasien, als dass eine saubere Trennlinie einzuhalten wäre. Die Erzählungen werden von Internil ineinander verwoben, Avatare, talking heads und Darsteller*innen mit scheinbar untoten Körpern und verletzlichen Affinitäten zu ihren reenacteten Figuren werden zum Knotenpunkt ungelöster Verbindungslinien. Dieses Theater inszeniert wie eine hysterisierte Suchmaschine: Es fügt zusammen, was sich scheiden will, haut den Zuschauer*innen ihre eigenen moralischen Leitsprüche mit 1000facher Trefferquote um die Ohren und fragt am Ende doch sehr ernsthaft: ‚Was willst du als mündiger Mensch mit diesen Ergebnissen anfangen, welche Schlüsse aus ihnen ziehen? Wie wirst du dieser Ungerechtigkeit und diesem brodelnden Gewaltpotential begegnen? Für Verwirrung bleibt jetzt wirklich keine Zeit!‘ So nehmen die Performances von Internil den veränderten Grundton meiner Alltagserfahrung auf und schreiben ihn um. Es gibt ein Vertrauen zu und eine Freude an ihrem Theater, weil es sich zur Gegenwart präzise und engagiert, aber nicht theaterfeindlich verhält. Und es hat mir mit seinem Heer aus computermodellierten Kunstfiguren und deren Behauptung authentischer Erfahrung die Steilvorlage geliefert, einen Text über ein ‚Ich‘ zu schreiben, das der Welt von Internil entsprungen sein könnte.
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Dr. des Jeanne Bindernagel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden und Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig
Ein Gedanke zu „„Wir beginnen nun mit dem ersten Stream unserer Wissensliturgie: Zum europäischen Bewusstsein“ (Internil, Gog / Magog: Teil IV Europa)“